BIENNALE VENEDIG



Am 13. Mai ist die offizielle Eröffnung und die Verleihung der Löwen.
Kuratorin der grossen Ausstellung ist Christine Macel, zuvor schon 2013 mit dem Französischen Pavillon und Anri Sala in Venedig, lange am Centre Pompidou tätig. Ihr Titel für die kuratierte Show - Viva Arte Viva - feiert die Kraft der Kunst. Kunst legt heute angesichts weltweiter Konflikte und Verwerfungen Zeugnis vom wertvollsten Anteil dessen ab, was uns menschlich macht. Kunst bietet den ultimativen Austragungsort für Reflexionen, individuellen Ausdruck und Freiheit. Dies wird sie in neun "Trans-Pavillons" darstellen und abhandeln: die Künstler und Bücher, Freuden und Ängste, Gemeinschaft, die Erde, Traditionen, Schamanen, Farben, der dionysische Pavillon, Zeit und Unendlichkeit, mit 120 Künstlern. Allen Unkenrufen zum Trotz, manche sprachen von der "Strickliesel-Ausstellung" - es ist ein grosses Sammelsurium und trotzdem eine interessante spannende Zusamenstellung.

Einen wunderbaren Einstieg bieten die an mehrern Orten hängenden, an Werbeschilder erinnernden Paletten mit Pinsel Emblemen von John Waters, dem grossen Undergroundfilmer, mit Slogans wie "study art for prestige or spite".


John Waters © J.L.

Zu Beginn der kuratierten Ausstellung im Giardini-Pavillon gibt es mehrere Arbeiten mit / zu schlafenden, liegenden Künstlern... Mladen Stilinovic, Franz West, Frances Stark, V.Vorobyev + Y.Vorobyeva
Raymond Hains bekommt fast eine Retrospektive zu nennenden Raum mit vielen seiner sehr unterschiedlichen Arbeiten. Witzig eine Brille mit "Wellenschliff" in Anlehnung oder Ursprung seiner verzerrten Werbeplakate. Auch die frühen Decollagewände sind zu sehen.
In schöne alte Keksdosen baut Abdullah Al Saadi sehr verspielte Leporellos mit Text und Zeichnungen, manche mit mechanischem Transport zum Umwickeln. Ebenso intensiv, dicht und verspielt sind die sich mehrfach überlagernden Abzeichnungen von alter Kunst, Architektur, Portraits von Ciprian Muresan.
Im Arsenale stösst man dann auf einige Werke die auf indigene Lebenswelten und Räume abzielen. Beispielsweise den Kreis aus Monitoren mit Videos aus Lebensbezügen von Juan Downey oder das wunderbare Video vom rhythmischen Wasserklatschen als Kommunikationsmittel in einem Urwaldfluss von Marcos Avila Forero. Brasiliens Star Ernesto Neto eröffnet den "Pavillon der Schamanen", bringt einige Indigene in sein grosses lichtes Zelt, diese veranstalten Performances, Musiksessions mit den Besuchern, jeder ist aufgefordert teilzunehmen.
In diesem Zusamenhang kann man auch das Video von Shimabuku über das Erstaunen einer Affengruppe sehen die auf einen Schneehaufen trifft. Noch stärker ist dessen Videoarbeit in dem ein dünner Laptopdeckel zu einer scharfen Axt geschliffen und umgebaut wird!
Zum Thema leben und wundern aus politischen, ökologischen und ökonomischen, sozialen Verwicklungen bringt uns Julian Charriere mit seinen Tortenstücktürmen aus Lithiumsalzen aus Bolivien - manche mögen noch erstarren ob des ungebremsten Konsumismus mit all seinen Schäden - und der Symbolik der (neo-biblischen) "Salzsäulen". Eine wahrlich grosse Arbeit. Auch Michael Blazys Arbeiten stehen in ähnlichem Zusammenhang, ein Vorhang aus bepflanzten Sneakern... Im Giardini de Virgini zeigt er eine weitere Arbeit, einen Kreis mit stehenden "Hexen"-Besen. Stark auch seine Plakatstapel die von stetigen Wassertropfen ausgehöhlt werden und in den Vertiefungen Farbkreise aus den unterschiedlichen Motiven freilegen. Pure Art!


Michael Blazy © J. Lindenau, HWJ

Unter diese Kategorie fallen auch die riesigen Messingstäbchen-Vorhänge von Leonor Antunes die aber etwas verloren mit wenig Licht in der grossen Raumflucht der Arsenalegänge hängen. Grandios inszeniert dagegen die Installation von Edith Dekyndt bei der das Personal permanent den feinen weissen, strahlenden Gipsstaub zum perfekten Quadrat kehrt - ein projiziertes Lichtfeld. Ähnlich verblüffend die Videoprojektion von Zhou Tao- urbane Wände und Räme wirken wie monochrome Malerei, auch mit Schrunden und Struktur, die ob der Perspektive und Dimension irritieren - erst wenn zufällig ein Mensch durchs Bild läuft wird diese sichtbar, erfahrbar. Grosse Kunst! Alicja Kwades grossräumige aber leichte Installation aus Glas-und Spiegelwänden mit Findlingen und in Aluminium abgegossenen Baumstrünken begeistert ebenso mit seinen Irritationen und Perspektivwechseln. Auch ihre an anderer Stelle liegenden "singenden brummenden sirrenden planetaren" verschiedenfarbenen Steinkugeln verzaubern ungemein! Sie hat mit ihrem konsequenten Werk ihren ersten Auftritt in Venedig längst verdient.
Einige Künstler beschäftigen sich mit Musik, Kader Attia zeigt eine Dokumentation zur Musik in Nordafrika, Viel interessanter die "Wandzeichnung-Tapete" und Sound mittels einer in eine Spielorgel eingespannte Tapeten-Muster-Walze von Saadine Afif. Ebenso wunderbar die von Naturgewalten wie Wind oder Gravitation, Bewegung bespielten Instrumente im Video von Nevin Aladag. Den Wahnsinns-Touristen-Rummel um Michelangelos David verpackt Guan Xiao in ein äusserst humorvolles Video mit Discosounds.
Zum Thema "Strickliesel" - es gab einen hohen Anteil an Arbeiten die sich mit Textil, sticken, stricken, weben, Material und "upcycling" befassen. So konnte man ein Kleidungsstück bei Lee Mingwei abgeben und bekam dieses überarbeitet zurück, meisst ein Fadengewirr wie von einer kaputten zu locker eingestellten Nähmaschine erstellt. Die grosse Wandarbeit aus hunderten Fadenrollen war sehr malerisch. David Medalla liess die Besucher arbeiten, jeder konnte etwas, meisst Visitenkarten, auf ein langes Tuch nähen. Stark wirkten die gestrickten Mützen auf runden Lampen, eine Bodeninstallation des Marrokkaners Jounes Rahmoun oder die Kombinationen von Teppich und Marmorsockeln von Cynthia Gutierrez. Der mit dem silbernen Nachwuchkünstler-Löwen ausgezeichnete Petrit Halilaj kreierte aus Teppichen, Stoffen und anderem riesige Insekten. Nancy Shaver stellte eine grosse Sammlung von textilen Werken zur wandfüllenden Collage zusammen. Ähnlich, Wollfäden gewickelt zu Knäuel und als Flächen in einem Raster von Michele Ciacciofera, dazu sehr schöne zum Teil vernähte Buchobjekte mit Naturmaterialien. Die grand dame Italiens Kunstszene Maria Lai zeigte genähte Textwerke. Andere bewegten sich dann doch nah am Kitsch...


Ciacciofera - Gutierrez - Shaver © HWJ

Assemblagen aus verschiedensten Materialien zu psychedelisch anmutenden Blumengebilden zeigte einmal mehr Rina Banerjee. Typische kitschige Eröffnungs-Bouquets stammen von Irina Korina die daneben noch eine wirre Neonzeichen-Installation zeigt. Upcycling oder Materialcollage oder beides betreibt Yee Sookyung, verbaut hunderte von Porzellan- und Keramikscherben zu einem Turm, überzogen mit Linien aus Gold.
Eine weitere kinetische Bastelarbeit stammt von Attila Csergö, ein Schattenspiel in der eine Möbiusschleife sich vom Kreis zum Unendlichkeitszeichen verändert. Ähnliche Schattenspiele mit einer Uhr. Auch Michael Beutler hat wieder gebaut - eine irre aufwendige Fachwerkkonstruktion, ein schwimmendes luftig offenes riesiges Haus. Eine Reminiszenz auf das "Dauer-Schaukel-Gefühl" in Venedig? ausgelöst durch die vielen Bootsfahrten - ein Gefühl das mir jedesmal noch tagelang nach der Rückkehr bleibt...


Yee Sookyung - Rina Banerjee © HWJ



Anne Imhof im deutschen Pavillon © J.L.

Und wieder geht der Goldene Löwe nach Deutschland - für das Dauerperformance-Spiel und die gesamte Inszenierung von Anne Imhof die im letzten Jahr bereits im Hamburger Bahnhof mit ihrer Preisträgerausstellung zum "Preis der Nationalgalerie" verblüffte und begeisterte. Junge Menschen die selbst-verloren in der Welt stehen, Smartphone-Zombies wie sie uns allgegenwärtig begegnen und selbstbezogene Vereinsamte, die emotionslos Handlungen vollziehen, manchmal sogar mit Anderen. Ein Blick in eine dystopische Gegenwart und Zukunft. Wo im Hamburger Bahnhof die riesige Halle bewältigt wurde, spielt sich dieses Mal vieles im extrem niedrigen klaustrophobischen Zwischenraum von realem Boden und neu eingezogenem Glasboden, auf dem sich die Zuschauer bewegen, ab. Ein Horror der Gegenwart perfekt ins Bild gesetzt. Nachdem meine Irritation ausgeräumt war, dass die Performance doch über die gesamte Laufzeit der Biennale zumindest rudimentär gezeigt wird - so gesehen die mit Abstand stärkste Arbeit in den Länderpavillons.

Verdient hätte den Löwen auch Geoffrey Farmer mit seinem immensen Umbau, Defragmentierung des Kanadischen Pavillons. Dieser sieht aus wie eine Ruine, Baustelle, komplett geöffnet, das Dach fast komplett demontiert inclusive der Flutung durch eine hochaufschiessende Fontäne a la Wasserrohrbruch in Intervallen. Rings um gibt es weitere Details der gesamten Arbeit zu entdecken, ein Brunnen mit rostigen Rohren, innen ein arabisch anmutendes Brunnenbecken mit einem Haufen Latten und eine Standuhr mit Axt und Rad zur Mini-Fontäne umgebaut. Die Latten verweisen auf seine Familiengeschichte, den Unfall seines Grossvaters, Zug gegen Lkw, der Brunnen, die Fontänen auf seine Zeit am San Francisco Art Institut und sein Erlebnis mit Ginsberg und John Cage-Aufführungen. Eine Erinnerungsarbeit.

Auch im Schweizer Pavillon geht es um Erinnerung und die Wunde, dass Giaccometti nie im vom Bruder erbauten Pavillon ausgestellt hatte (allerdings in einer Gruppenschau im Französischem Pav.) So machten Hubbard und Birchler ein filmisches Reenactment über Giaccometti und seine ehemalige Geliebte und unbekannt gebliebene Künstlerin Flora Mayo, eine Geschichte die Dokumentarisches und Fiktionales verwebt, lange recherchiert und ganz wunderbar auf zwei Seiten der Leinwand projiziert, gespielte Szenen in Farbe, Dokumente eher schwarz-weiss und zwei Blicke auf eine Beziehung.
Carol Bove ergänzt das Ensemble mit ihren schlanken farbig gehaltenen Stahlskulpturen die mit Phantasie ebenfalls auf Giaccometti verweisen.


Lisa Reihana - Pavillon Neuseeland © J.L.

Ein lebendes bewegtes Diorama, eine digitale Filmprojektion, basierend auf alten Bilddokumenten zur Entdeckung - Eroberung - Besiedlung - Übernahme der Inseln durch die Engländer zeigt Lisa Reihana im Pavillon von Neuseeland. Es zeigt verschiedene Szenarien der ersten Aufeinandertreffen von Europäern und Maoris. Äusserst beeindruckend in seiner Bildgewalt und ob des technischen Aufwands auf 32,5 Meter Länge. In aufgestellten alten Fernrohren blickt man auf Bilder und Dokumente zum Thema.

Begeisternd und hochtechnisch die Arbeit von Recycling Group im Untergeschoss des Russischen Pavillons. An den Seiten des engen Labyrinths entdeckt man Fragmente skulpturaler Figuren, Körperdetails, ein Knie, Arm usw. die Weiss-in-Weiss aus Oberflächen, asymetrischen Kuben hervorbrechen. In Gänze sichtbar werden diese virtuellen Skulpturen, die sich auf Dantes "Göttliche Komödie" und Inferno beziehen, nur per App auf Smartphones, "blocked content" so der Titel. So ist die digitale Welt, Technik und das Internet das grosse Thema des Duos Andrej Blokhin und Georgy Kutznetsov schon in der letzten BV als kollaterale Ausstellung vertreten gewesen, die Geister des Internets, Facebook und Co. Ich habe allerdings angesichts der daran vorbeiströmenden Massen den Eindruck, dass die Arbeit weder verstanden noch gesehen wird. Schade, denn die Künstler haben wesentlich mehr Aufmerksamkeit verdient ob ihrer sehr aktuellen, relevanten und inhaltlich interessanten Werke.

Auch im Ungarischen Pavillon geht man auf die historische Spur. Gyula Varnai begrüsst die Besucher mit dem (ältlich) wirkenden Neonzeichen "Peace on Earth" mit Taube und Olivenzweig. Ein fast lächerlich wirkendes Utopie-Symbol angesichts der weltweit zu beobachtenden Realität. Auch drin, ein Regenbogen - aus tausenden alten sozialistischen Sportabzeichen.


Gynla Varnai - Pavillon Ungarn © HWJ


Vajiko Chachkhianis Haus in dem es regnet - Georgien © J.L.

Eine mögliche Geschichte, eine narrative Installation bietet Vajiko Chachkhiani dem Betrachter - ein kleines altes Haus aus graugewordenen Holzplanken, durch Fenster einsehbar, einfach eingerichtet, Licht brennt, Geschirr auf dem Tisch, kürzlich war noch jemand da... aber nun regnets - drinnen...

Dirk Braeckman nimmt uns ebenso mit auf die Reise in unsere Phantasie und Imagination. Unglaubliche Bilder, Gedankenräume in Schwarz-Weiss ziehen in eine stille verlassen scheinende Welt, Interieurs, wehende Vorhänge, Schatten und schattige Figuren regen innere Exkursionen an. Verblüfft stellt man fest, dass es doch keine Bleistift- / Kohlezeichnungen sind, sondern Photografien, analog auf riesigen Barythpapieren abgezogen. WOW.

Flucht, Vertreibung, Verschleppung, Ankunft und all die Tragödien drum herum sind das Thema von Tracey Moffat die den Australischen Pavillon bespielt. Grossartige Photografien in irrer leuchtender Coloratur, Gegenlicht und Sonnenuntergang, Dunst und Rauch, besonders ausgesuchte Orte, die in mehreren Serien narrativ Gechichten in sich bergen, die manches Mal mit ihrer persönlichen Biografie als verschlepptes adoptiertes Aboriginee-Kind spielen. Emotionale packende Dokumente unserer Zeit, unserem Umgang mit den/m Anderen, von Hoffnung und Schicksal.

Reale Geschichten stellt Candice Breitz im Pavillon von Südafrika dar, interviewartige Erzählungen von Flüchtlingen aus verschiedenen Ländern, mit verschiedensten Gründen. Beispielsweise ein ehemaliger Kindersoldat aus Angola, ein Kriegsflüchtling aus Syrien, ein Transgender-Aktivist, Dissident nebeneinander auf 6 Screens im Original. In einem zweiten Raum sehen wir auf zwei Screens eine bearbeitete Version vorgetragen von den Hollywood-Sternen Julianne Moore und Alec Baldwin - die interessante Frage dabei - steigt die Anteilnahme, Aufmerksamkeit mit der Prominenz der Vortragenden? Sie zielt auf unser Verhalten in und mit der Medien-übersättigten Gesellschaft.

Zum ersten Mal gibt es einen (selbst initiierten) "Pavillon der Indigenen". Im Garten des Palazzo Foscarini, der zur Uni gehört und von Nachbarn als öffentlicher Park "besetzt" wurde, hat Oscar Tuazon mehrere ausgediente stark zerfressene, zersetzte wunderschön mit Muscheln überzogene Dalben zu einem Kreis der Totempfähle aufgestellt. Eine mehrfache Erinnerung an vergangene Zeiten und Kulturen.

Elvin Nabizade installiert Instrumente aus dem arabischen Kulturraum zu einem Globus - welch schöne Vorstellung, eine Welt aus verbindender globaler Musik... Auch seine "Welle" aus dutzenden Saz' ist einfach "schöne" Kunst. Sein Gegenpart im Azerbejan Pavillon ist eine sehr technoide Projektion, ein Gang aus digitalen Daten. "Hypnotica" ist eine Gruppe von "Visual Performern".

Österreich stellt zwei sehr unterschiedliche Positionen aus - die doch sehr kalauerischen Mitmach-Skulpturen, "one minute sculptures" von Erwin Wurm an denen die Besucher sehr seltsame Verrenkungen praktizieren, witzig, und einen kopfstehenden LKW-Aussichtsturm, noch witziger?
Daneben grandiose Neon-Licht-Kringel Dioramen, Bilder, Malerei der erweiterten Art von Brigitte Kowanz. Mit Hilfe von Glas und verschiedenen nichtdurchlässigen und einseitig reflektierenden Spiegeln multiplizieren sich die Linien aus Licht, die Zeichnung, in die Unendlichkeit, eigene "virtuelle" Räume erschaffend.


Brigitte Kowanz - Erwin Wurm © HWJ

Zum Thema "lustig - witzig - skuril - mythisch" arbeiteten auch die Pavillons von Irland, eine Hexengeschichte von Jesse Jones, Finnland mit einer filmischen und animierten Installation von Mellors und Nissinen "the Aalto Natives" mit Klischees finnischer Geschichte und Mythologie, diskutiert von den animierten Puppen "Geb und Atum".
Und im Isländischen Pavillon lässt Egil Sæbjörnsson die Trolle "Ugh und Boögar" los, "out of controll in Venice", mit sehr skurilen unterhaltsamen Geschichten, in denen schon mal die verschiedenen Geschmacksrichtungen der verspeisten Venedig-Touristen kommentiert und besprochen werden... dazwischen wird reichlich geschnarcht beim Verdauungsschlaf. Wir sind nochmal davongekommen.


FUTURE GENERATION ARTPREIS - Preisträger Dineo Seshee Bopape - N. A. Crosby - Phoebe Boswell © HWJ

Der Future Generation Art Prize ist eine generöse Einrichtung des ukrainischen Oligarchen und Kunstsammlers Victor Pinchuk, ausgestattet mit 100000€ für den Hauptpreis (Geld und Produktion) und 20000 für ein bis zwei Spezialpreise! Echtes Mäzenatentum für Künstler unter 35 Jahren mit freier Bewerbung aus allen Teilen der Erde. Und schon manche Künstlerin wurde dadurch erst bekannt, so auch die diesjährige offizielle Vertreterin Brasiliens Cynthia Marcelle, Preisträgerin 2011. Vor einigen Jahren hatte Viktor Pinchuk gleich den ganzen Pavillon von Ukraine finanziert, inclusive eines Freikonzerts auf der Uferpromenade!
Den Preis in diesem Jahr bekam Dineo Seshee Bopape, vermutlich den wenigsten bekannt, mit seiner sehr erdigen, torfigen Installation gepaart mit Eisenringen, Keramik, Blattgold, Federn, Muscheln, Blütenblättern und anderem "Nutzlosen" - wie er selbst betont. Und natürlich spriessen erste Keimlinge aus der Erde. Phoebe Boswell erhielt den Spezialpreis für ihre feministisch angehauchte filmische Projektion. Im Eingang begrüsst Christian Falsnaes Performance interaktiv die Besucher die sich darauf einlassen. Auch Sol Calero vom Berliner Projektraum "Kinderhook + Caracas" ist mit ihrem Tropical-Cambio-Kiosk dabei. Asli Cavusoglu produzierte eine Zeitung der Prophezeiungen und Vorhersagen, politische und gesellschaftliche Fragen der Zeit werden behandelt in der Tradition osmanischer Geschichtenerzähler. Mit speziellem Blick auf die Türkei unter Erdogan und Zensur - mutig - Schlagzeilen wie "Turkey will be ruled by monarchy" oder "writers will not be able to enter turkey". Eine wesentlich stärkere, relevantere Arbeit als die im türkische Pavillon gezeigte! Das Video von Vajiko Chachkiani zeigt ein Roadmovie. Die Zerstörung einer Denkmalfigur, Sturz des Potentaten. Diese Statue zieht der Protagonist hinter seinem Auto her. Feine abstrahierende Malerei mit floralem Charakter von Nijdeka Akunyili Crosby. Insgesamt wurden 21 Künstler*innen nominiert und hier ausgestellt.
Abgerundet wird das Engagement mit einer grossartigen Party, super DJ's und viel Spass.


GLASSTRESS: Mouira al Qadiri - Abdul Nasser - Erwin Wurm - Dustin Yellin - Charles Avery - Sarah Sez © J.L. + HWJ

Glasstress ist ebenfalls ein privates Engagement von Adriano Berengo der seit über 30 Jahren Künstler (der Biennale Venedig) einlädt in seiner ehemaligen Manufaktur auf Murano mit Hilfe hochspezialisierter Fachleute Werke aus / mit Glas zu produzieren. Die Liste ist ein "Who is Who" der Kunstszene! Die Ausstellung im Palazzo Franchetti mit seinen "Musen" im Treppenaufgang ist jedesmal spannend. Sarah Sze, zuletzt im US-Pavillon, bestückt alle Fensterbänke mit einzementierten Glasscherben, agressiv abgrenzend. Thomas Schütte, Erwin Wurm, Monika Bonvicini, McCarthy, die Chapman-Brüder, Ugo Rondione sind beispielsweise dabei. Tolle Arbeiten von Abdul Nasser, ein Riesenstempel "in accordance with sharia law" bezeugt die Erlaubnis sich als Frau in SaudiArabien "frei" bewegen zu dürfen! Monira al Qadiri zeigt hübsche noppige Glasobjekte in verschiedensten Farben - Modelle von unterschiedlichen Virentypen. Klasse auch die vielen schillernden Aale in Transportkisten von Charles Avery. Schwarze Totenköpfe, Totenmasken mit Gewürm, Skelette, Stinkefinger, Analplugs - alles dabei...

Fast eine Retrospektive kann man die dokumentarischen Photoserien der Aktionen oder Performances, oft ein Jahr umspannende Selbstversuche der existentiellen Art von Tehchin Hsieh nennen. Der inoffizielle Pavillon von Taiwan richtet diese wichtige Präsentation aus. Selbstbeschränkung, absolute Disziplin bis zur Selbstaufgabe, suchen der persönlichen Grenzen, Rechtlosigkeit, ausgeliefert sein und Zeit als Arbeitsprinzip Anfang der 80er Jahre fordert unseren Respekt ein. Ein Jahr als illegaler Immigrant konsequent auf New Yorks Strassen leben und sich durchschlagen - wer hält das durch..! Er hat dieses Dasein täglich dokumentiert und aufgezeichnet.

Retrospektiven gibt es auch zu Guston, Pistoletto, Buetti, Carol Rama, und somit vieles zu entdecken.

Beeindruckend das Projekt von Antoni Abad im nichtoffiziellen Katalonischen Länderpavillon - "Blind Wiki" wozu wir das Glück hatten an einer geführten Gondelfahrt teilzunehmen und das Projekt zu erleben, zu erfahren. Abad hat mit Hilfe vieler, teilweise blinder, Venezianer einen erzählten irre spannenden Stadtrundgang gestaltet. Von jedermann mittels App nutzbar bietet er bislang an mehr als 1200 Orten Informationen, Geschichten, Anekdoten und persönliche Eindrücke, mancherorts Geräusche, Sounds zur Stadt und deren Geschichte, macht Venedig für alle mehr erlebbar, erfahrbar. Ein Geschenk an die Stadt - das sich in den nächsten Jahren erweitern und aktualisieren wird, denn die Bearbeitung bleibt den Bürgern zur offenen Verfügung. So haben wir eine Last-Gondelfahrt genossen, die Geräusche des Wassers, Stille zwischen den Häusern und aufkommender Trubel wenn eine Gasse auf den Kanal stösst, Rufe der spielenden Kinder, dazu Erläuterungen unserer blinden Begleiterin, wie sie die Geräusche erlebt und interpretiert... Wundervoll!

Die weitaus beste stärkste Ausstellung der diesjährigen Biennale ist nicht einmal im "Collateral Projects Programm" verzeichnet! Die Fondation Prada präsentiert im barocken Ambiente des Ca'Corner della Regina, grandios kuratiert von Udo Kittelmann / Nationalgalerie Berlin, eine Zusammenarbeit von Photografie, Film und Bühnenausstattung die tatsächlich auch zusammen wirken. Anna Viebrock, Theaterfrau u.a. mit Marthaler an der Volksbühne Berlin, hat den gesamten riesigen Palazzo komplett verbaut, mit Kulissen praktisch verborgen. Nur an wenigen Stellen blitzt die barocke Pracht hervor. Dafür bilden sie das perfekte Display für die Photografie von Thomas Demand, seine reenactments, Nachbauten von allgemein bekannten Ereignisszenarien aus Politik, Gesellschaft, Verbrechen u.a. ebenso wie für die Inszenierung des filmischen Werkes von Alexander Kluge. Und doch sind sie eine eigenständige Arbeit mit ihren labyrinthischen Türanordnungen, Raumgestaltungen und Raumfolgen, narrativen Settings und Reenactments ehemaliger Bühnenbauten, eben nicht nur "Deko" oder Ausstellungsgestaltung.
Der Filmemacher und Literat Alexander Kluge, derzeit allerortens "wiederentdeckt" und Venedig durch drei Löwen des Filmfestes verbunden, bildet das Herz der Gesamtausstellung. Es werden einzelne grosse Spielfilme gezeigt, beispielweise "der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit", aber vor allem sein umfangreiches Kurzfilmwerk, auch die "Minutenfilme", 10-Stunden-Programme und seine Bibliographie. In Settings mit Titeln wie "die Bürde der Vernunft" oder "Tempel der Ernsthaftigkeit" werden Filme mit sehr tiefgehenden, gesellschaftlichen, lebensrelevanten wie philospohischen, aber ebenso humorig (einige mit Helge Schneider) aufgearbeiteten Themen zusammengefasst. Mal sitzt man in einem Saal mit Kirchenbänken vor 16 Tablets, andernorts sind Monitore in Fassaden eingefügt oder hinter Fenstern... Passend zum Titel auch ein Programm "Schiffsuntergang und Meeresdramen". Schon in der letzten Biennale war er mit "Nachrichten aus der ideologischen Antike" in die kuratierte Ausstellung integriert, einer der wichtigsten Beiträge. Einfach nur grossartig!



"the boat is leaking" - Kluge - Viebrock - Demand © J.L.


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Raymond Hains © J.L.


Abdullah Al Saadi © artist + sharjah art foundation


Marco Avila Forero © artist


Shimabuku © HWJ


Julian Charriere © HWJ


Alivja Kwade © J.L.


Jounes Rahmoun © artist + Gal. Imman Fares


Michael Beutler © HWJ


Anne Imhof im deutschen Pavillon © J.L.


Geoffrey Farmer - Canadischer Pavillon © J.L.


Ivan Capote - Pavillon Cuba © J.L.


Recycling Group - im Russischen Pavillon © HWJ


Dirk Braeckman - Belgischer Pavillon © J.L.


Tracy Moffat - Australischer Pavillon © artist + Roselyn Oxley9Gallery / Tyler Rollins Fine Art


Oscar Tuazon © HWJ


Elvin Nabizade © HWJ


Palazzo Franchetti © HWJ


Pistoletto © HWJ


Antoni Abad - "Blind Wiki" © HWJ


Anna Viebrock © J.L.