die BIENNALE VENDIG beginnt nun noch früher - die Löwen werden am 23.4. vergeben.
Wie herrlich wars früher im Juni... die vielen Open-Air-Veranstaltungen an warmen Abenden und Nächten - dieses Mal dagegen nur im kalten Regen waten...



"The Milk of Dreams", so der Titel der von Cecilia Alemani kuratierten Ausstellung ist dieses Mal etwas Besonderes, Einzigartiges, denn sie versammelt (fast) ausschliesslich weibliche Künstlerinnen, dreht den Spiess der Dominanz mal um! Zeigt die lange und andauernde (?) Marginalisierung von weiblichem Kunstschaffen ab Mitte des 19.Jahrhunderts, lässt Vergleiche zu den "bekannten" Ikonen des Kunstmarkts zu und überrascht manchen mit Qualität und Intensität, schafft es unseren Blick zu erweitern. Die "Frau an seiner Seite" ist eben nicht nur Muse, sondern auch mal Vorreiterin, Ideengeberin und eigenständig Schaffende! Eine gute Idee die manchem zu denken gibt, längst überfällig! Den Titel bezieht sie von einem Buch von Leonora Carrington, einer surrealistischen Künstlerin und Poetin und gibt damit einen Grundton vor. Sehr viele Arbeiten haben tatsächlich surreale Wurzeln, haben Beziehungen zu Mystik und Esoterik, auch Okkultismus, oder haben literarische Beziehungen. Integriert wurden auch Fotos von einflussreichen Protagonistinnen anderer Genres wie Mary Wigman oder Josephine Baker. Die Biennale ist dieses Mal definitiv weiblich.
Leider ist sie durch ihren lexikalisch anmutenden Anspruch allen vergessenen und unterrepräsentierten Frauen Raum zu bieten zu unübersichtlich geraten. Zu viel ist eben auch nicht gut.


Andra Ursuta - Ruth Asawa - Monira Al Qadiri


Manche nationale Kommission nahm dieses Konzept auf, in den Pavillons finden sich die Arbeiten vieler Künstlerinnen. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass der Goldene Löwe an eine Künstlerin geht - Sonia Boyce mit einer Memorabilien-Sammlung zu schwarzen weiblichen Musikschaffenden in Grossbritanien, dargestellt durch 5 Sängeringen welche die Pop- und Rockgeschichte beeinflusst haben. Videos, Covers, Fotografien, Persönliches in einer goldig glänzenden an Pyrit erinnernden Kristallstruktur.



Mein Favorit ist der griechische Pavillon mit einem 360grad-VR-Film den der Besucher in einem drehbaren Sessel gefühlt hautnah erlebt, oft schwebend, da Szenen mit einer 360grad Kamera-Drohne gedreht wurden unter der Regie von Heinz Peter Schwerfel. Loukia Alavanou entwickelt entlang Sophokles' Drama "Ödipus on search of Colonus", der Suche nach seinem Ort zum Sterben nach der Vertreibung aus Theben, eine aktuelle Geschichte um Ausgrenzung und Vertreibung, Armut, Gewalt und Zusammenhalt. Tatsächlich lebt eine Roma-Community nahe bei Colonus, ebenso marginalisiert und nirgends gewollt oder willkommen. Zur Entwicklung des Films und des Scrips lebte Alavanou ein Jahr lang in und mit dieser Gemeinschaft in diesem trashigen Slum und hat einige der Bewohner als Darsteller in den Film einbezogen. Aus diesem Zusammenspiel ergibt sich diese intensive dichte vielschichtige Arbeit. Bravo! Alavanou: "Ich verirrte mich in einer nicht präzise kartographierten Gegend westlich von Athen und fand mich in einem Roma-Ghetto wieder, einem der härtesten Orte Griechenlands. Die dort lebende Roma-Gemeinschaft war in den 80er Jahren aus Theben hier hergezogen, genau wie Ödipus, der ja auch aus Theben kam. Und man vermutet heute, dass der Weg durch genau diese Siedlung Nea Zoi führte - was interessanterweise just 'Neues Leben' bedeutet."

Sehr stark auch die Arbeit von Zineb Sedira im französischen Pavillon über Migration, Leben und Arbeit, ebenso politischen Implikationen, auch mittels der eigenen Familie und Geschichte dargestell, aber vor allem durch Filmschnipsel des algerischen Kinos und narrativen Filmszenen aus ihrem Leben zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten, eine lange "Wanderung". Die arrangierten neuen Filmsets sind in den verschiedenen Räumen aufgebaut, für den Film wurde ein Kino eingebaut. Um die 50er/60er Jahre-Filme neu zu entdecken, hat sie sich durch einige Archive in Algerien, Italien und Frankreich gearbeitet und manches verloren Geglaubtes wieder entdeckt. Kuratoren sind die kommenden Direktoren des Hamburger Bahnhofs in Berlin Till Fellrath und Sam Bardaouil. Ein gutes Omen.

Ebenfalls weiblich - ein Duo, ein Paar, bespielt den Pavillon von Litauen. Inguna Skuja und Melissa D. Braden erstellen ein fiktives Haus, ein Interieur verschiedener Wohnbereiche, belebt von unglaublich vielen bemalten Porzellane, realistische wie surreale, absurde Artefakte der täglichen Umgebung und des Lebens, oft sehr stark sexuell aufgeladen. Die Haarbürste mit Fingern statt Borsten, ein gekreuzigter Penis inclusive Hoden usw. Ein grossartiger eigener Kosmos!

Ebenso verspielt sexuell die Fotoserie von Lumturi Blloshmi mit Fröschen in der Pfanne die das ganze Kamasutra durchspielen.


Inguna Skuja + Melissa Braden - ein Element des tictactoe Spiels - Lumturi Blloshimi Frosch-Kamasutra

Eine ganz bezaubernde eigene Geschichte knüpft Füsun Onur mit "once upon a time...", einem Roadmovie auf einem dutzend Tableaus inszeniert, eine Reise von Istanbul nach Venedig, wie sie auch die Künstlerin macht. Zu Zeiten der Pandemie suchen Mäuse und Katzen gemeinsam nach Lösungen aller menschengemachten Kriesen, finden Freundschaft, Freude, sogar Liebe... Ganz toll ausgeleuchtet mit Spots auf die einzelnen Szenen schafft sie minimalistische Szenen mit Figuren aus Draht, farbigem Kreppapier, Stoffen, Tischtennisbällen als Köpfe, dazu Puppenhausmöbel, ein Boot u.a. Die Maus als alter ego der Künstlerin. Zauberhaft.

Die israelische Künstlerin Ilit Azoulay lenkt unsere Blick auf Fragen des Besitzes und Aneignung archaischer Idole, Gegenstände, Rüstungen und Schmuck. Vieles stammt aus dem vorderasiatischen, auch islamistischen Raum und ist letztendlich in westlichen Museen gelandet. Mittels Fotocollagen der verschiedensten Teile schafft sie spannende sinnliche Begegnungen auf Tableaus, manchmal fast figürlich. Durch ihre intensive Recherche in Archiven und Sammlungen stellt sie auch Fragen nach Identität, Rekontextualisierung, Raubgut und Restitution und einem Nachleben der Objekte.

Melanie Bonajo hat den Pavillon der Niederlande in die Chiesetta della Misericordia verlegt, einer aufgelassenen Kirche mit Sternenhimmeldecke. In einer welligen warmfarbigen Kissen-Liegelandschaft kann der Besucher entspannt einem Film folgen mit Szenen und Gesprächen zu den Themen Psychotherapie Berührung Körperlichkeit, Sexualität Heilung. Bekleidete und nackte Menschen allen Geschlechts und Herkunft sprechen, performen, kuscheln, rutschen ölbadend wild durcheinander oder agieren im Wald, bilden ein öco-erotisches Chaos und therapieren sich in sanfter Sex-Gruppenarbeit. Bonajo arbeitet selbst auch als Körperarbeiterin, Sex-Coach im Sinne von Wilhelm Reich. "a world with more touch will be more peaceful" so ihr Credo - für unsere Welt dringend nötig!



Bildgewaltig, alle Wände füllend gestaltet Malgorzata Mirga-Tas den polnischen Pavillon mit ihren Textil-Collagen zur Mythologie und dem Alltag von Roma. Die 12 Abteile, die jeweils in drei Ebenen unterteilt sind, entsprechen den 12 Monaten und zeigen in der mittleren Ebene die jeweiligen Sternzeichen, mit Bezug auf Darstellungen aus der italienischen Renaissance im Palazzo Schifanoia in Ferrara. Darüber sind Bild-Collagen aus Geschichte und Mythologie der Roma von Indien bis Europa zu sehen, ebenso Szenen aus dem Alltag. Ihr tolles Gespür für Muster und Stoffe ergibt phantastische malerisch realistische Bilder, wahrlich eine "Wieder-Verzauberung der Welt".



Den US Pavillon bespielt Simone Leigh mit riesigen Skulpturen, zwischen Realismus und Abstraktion absolut form- und stilsicher. Sie betont die schwarze weibliche Identität und Subjektivität, benutzt Klischees indem sie den Pavillon mit Stroh eindeckt.

Die queere Weiblichkeit wird vertreten von Jakob Lena Knegel und Asley Hans Scheirl die im Österreichschen Pavillon ihren eigenwilligen Kosmos ausbreiten. Aber auch von Yuki Kihara für Neuseeland, aus Samoa stammend, wo trans-Männer schon immer als "Fa'afafine", das dritte Geschlecht akzeptiert sind. Sie zeigt Fototableaus die den sinnlichen Südsee-Gemälden Paul Gauguins nachempfunden sind.

Manche Nationen haben aber auch männliche Künstler eingeladen.
So haben wir das Vergnügen bei Belgien eine ganz wundervolle Arbeit, bestehend aus mehreren Videoprojektionen zu sehen. Ein starkes Plädoyer für die Menschlichkeit - Kinder spielen weltweit die gleichen oder sehr ähnliche Spiele miteinander - alltagsvergessen, fröhlich, extatisch... mit Tricks werden Verbote (z.B. des Fussballs durch ISIS oder Taliban) umgangen, mit einfachen Mitteln spielt Armut keine Rolle.
Darüber hinaus gibt es eine kleinformatige Malerei-Serie, Motive der täglichen Misstände. Man sieht Flüchtlinge in der Wüste, Unruhen in Mexico, Goldgräber am Amazonas usw.



Stan Douglas zeigt seine Arbeiten an zwei Orten: im kanadischen Pavillon grossformatige inszenierte Fotografien - Demonstrationen, Unruhen, Polizeisperren - heutiger Zeit (2011) und er verknüpft diese mit der 1848er Revolution in Europa, dem bürgerlichen Aufbegehren gegen die alte Obrigkeit und Aristokratie.
Am zweiten Ort, dem Magazzine del Sale, findet auf zwei sich gegenüberstehenden Leinwänden ein Rap-Battle statt - in Cairo mit zwei Männern die sich "bekämpfen", in London mit Frauen die kooperieren.

Sound ist auch im australischen Pavillon mit Marco Fusinato zu erleben. "Desastres" - der Titel beschreibt treffendst die Bild-Sound-Installation, ein Inferno aus verzerrter rückkoppelnder schrill kreischender Gitarre, die Marco selbst die gesamte Laufzeit der Biennale bis November spielt. Gekoppelt ist ein Internet-Bild-Suchsystem, Archive aus denen sich ein permanenter sehr schneller und damit schwer fassbarer Bildfluss, ja eine Bilderflut auf eine ca 5x12m grosse Monitorwand ergiesst. Bilder aus unserer Welt, Natur, alte und neue Kunstabbildungen, Gelage, Tiere, abstrakte Formen und Muster, Proteste und Polizei, Gewalt... ein heutiges Desastres de Guerra, eine zeitgenössische Version von Goyas Zyklus, ein Krieg der Bilder und Medien.

Ebenso technoid aber sehr ästhetisch zeigen sich die Apparate, Skulpturen, schillernde halluzinierende Alien-Roboter-Schlangen aus tausenden Minibildschirmen, visualisierte Strömung einer dystopischen Zukunft.

Der deutsche Pavillon: Maria Eichhorn unterzieht ihn einmal mehr einer archäologisch-architektonischen Untersuchung, legt die Fundamente frei, zeigt die Spuren des überbauten "bayrischen Pavillons" - eine sehr spröde Arbeit mit Fragen nach Machtpräsentation und Übernahme.
Ihr zweiter Teil - eigentlich eine eigene Arbeit im Genre "Spurensuche" führt durch Venedig zu Mahnmalen, Gedenkorten des Widerstands gegen Faschismus und Krieg.


Und sonst noch -
Überwältigend - "Human Brain" von Udo Kittelmann in der Prada Foundation Palazzo Corner della Regina - ein Rundgang durch die geistige und kulturelle Entwicklung der Menschheit, Religion, Kunst, Technik, Poesie, Geisteswissenschaft, Mystik, Medizin, Philosophie, menschliches Wissen allumfassend zusammengetragen und ausgebreitet! Phantastisch und sehr zeitintensiv!

Radicants - Planet B - Klimawandel und das neue Erhabene kuratiert von Niclas Bourriaud zeigt in drei Folgen Künstler die sich mit Klimawandel und den Folgen, Veränderungen beschäftigen. Wunderbare künstliche Korallen, Salzkristallisierung, Wucherungen auf Trash von Bianca Biondi. Haegue Yang zeigt eine digital-florale Wandtapete. Agniesza Kurant zeigt Zinkgussformen die an Bleigiessen erinnern und an Korallen. Malerie von Roberto Cabot zeigt ein zeitgenössisches "Paradiesgärtchen" und Philip Zach sammelt in Muschelschalen Meeresmüll.

Die Ausstellung der Parasol Foundation versammelt Künstler von allen Kontinenten, David Clearbout, Martin Puryear, Darren Almond und Teresa Margolles, die mit ihrem eleganten Paillettenkleid auf die damit verbundene Gefahr hinweist: "in Mexico werden Beauties entführt und verschwinden...". Bahti Kher zeigt Skulptur-Collagen aus zerteilten indischen Götterfiguren, Oliver Beer baut einen kleinen Altarraum mit Madonnenfigurinen und reichlich viele oft kitschige Tierfiguren und Vasen, die selektive Lichtsteuerung übernimmt der Besucher per E-Piano-Tastatur. Arghavan Khosravi malt hyperreale Portraits im Renaissancestil und bekleidet sie mit echten Brokatstoffen und Verzierungen. Eine Tsunamiwelle aus Altkleidung in Massen baut Sion zusammen und stellt zum Schutz Feldaltare dazwischen. Julien Charrieres Video zeigt einen brennenden Brunnen und eine sehr starke Installation aus grossem Felsen mit daneben gelegten Bohrkernen, manche mit verschiedenen Metallen teilummantelt.

Im inoffizellen Pavillon von Malaysia, Perak, gibt es wunderbare Einblicke in das Leben der lokalen indigenen Bewohner die das Projekt Rabak in Film und auch mit Fotos darstellt, mit allen Schwierigkeiten (z.B. Schulen) und Freuden. Es geht um Fragen nach indigener Identität und Rechte, ebenso wie um Themen wie Rechte der Natur, Besitz von Natur und deren Nutzung bzw. Ausbeutung. Es gibt mehrere Performances u.a. "The Healing Art Project". Das traumschöne Video von Kamal Sabran zeigt ein Musikerensemble das mit klassischen malayischen Instrumenten kombiniert mit digitalen Sounds spielt, auf Felsen in einem Fluss sitzend, von einer tanzenden Frau begleitet.


Kamal Sabran







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Katarina Fritsch bekommt einen Löwen für ihr Lebenswek


Barbara Kruger


Sheree Hovsepian


Loukia Alavanou, On The Way to Colonus, VR360, 2020, still © Loukia Alavanou


Zineb Sedira - ein Szenenset aus ihrem Film


Füsin Onur


Ilit Azoulay eines ihrer Tableaus


Simone Leigh


die "Bildraupe" von Yunchul Kim


Radicants - Planet B - Haegue Yang Wandtapete / A.Kurant / Bianca Bondi Trash-Korallen


Parasol - Julien Charriere


Parasol - Arghavan Khosravi - Bahti Kher


das Pigmente Lager von Anish Kapoor im Palazzo Manfrini


Hyper Bling Bling Katharina Grosse bei Louis Vouitton - symbolisch für den ganzen SchickMicki-Rummel um die Biennale heutzutage... wen kümmert noch die Kunst?